Von Null auf Hundert tobt auf einmal die Hölle um uns herum.
Alles was mir bleibt ist, meine Patientin an den Schultern festzuhalten. „Nicht bewegen!“
Starr vor Schreck blickt sie mich an. Und genauso schnell, wie der Hurrikan aus Pferden um uns herum losbrach, ist er wieder vorbei.
Der Himmel ist blau, die Vögel zwitschern, vier Pferde grasen wieder friedlich neben uns.
Ausatmen.
„Alles ok? Dafür hatten die Vier jetzt keinen äußeren Anlass.“
„Ich glaube, das kam von mir.“
Und damit hatte sie Recht. Die Pferde reagierten auf ihre Emotionen im Rahmen unseres traumatherapeutischen Settings. Und obwohl wir nur bei ihnen standen und uns durchweg leise unterhielten, reagierten die Tiere schneller, als wir selbst die Entwicklung realisieren konnten. Wie kann das sein?
Systemisch denken für neue Wege mit Hund & Pferd!
Jedes Lebewesen ist mit seinem Umfeld verbunden. Dieses beeinflusst seine Emotionen, sein Handeln und auch seine Gesundheit.
Jeder Mensch steht in Verbindung mit anderen. Mit einem Partner, mit Kindern, Eltern, Freunden, Kollegen, Nachbarn oder auch mit digitalen Netzwerken. Je enger die Beziehung, desto mehr Einflussnahme üben diese Verbindungen aufeinander aus. Es entsteht ein System. Zum Beispiel das System der Familie, in dem jedes einzelne Mitglied zählt.
Hunde, Katzen und Pferde spielen heute eine umfassende Rolle im Leben vieler Menschen. Sie sind Freund, Sozialpartner, Familienmitglied. Und so sind auch sie nicht trennbar aus dem systemischen Gefüge.
Tiere stehen in engster Verbindung mit den Menschen ihres Lebens sowie mit anderen tierischen Weggefährten. Menschen und Tiere beeinflussen einander. Und das sehr intensiv!
Ein Umstand, dessen positive Eigenschaften sich die tiergestützte Therapie zunutze macht. Hier zählt vor allem der heilsame Effekt von Tieren auf den Menschen. Unzählige Studien belegen die Wirkung. Der Umgang mit einem entspannten Tier führt beim Menschen zu umfangreichen körperlichen und psychischen Effekten. Insbesondere die durch den Kontakt ausgelösten Reaktionen auf hormoneller und neurologischer Ebene wirken regulierend auf Organsysteme. Das „Wohlfühlhormon“ Oxytocin ist daran maßgeblich beteiligt, es senkt die in der Nebenniere produzierten Stresshormone Adrenalin und Cortisol. In Folge fühlen wir uns besser.
In identischer Weise produzieren auch Tiere Oxytocin, Adrenalin, Cortisol sowie vielfältige andere Hormone, Neurotransmitter und Botenstoffe. Die biochemische Welt ist keine Einbahnstrasse!
Welchen Einfluß übe ICH auf mein Tier aus?
Wenn dieses Phänomen bereits während eines kurzen Tierbesuchs im Pflegeheim funktioniert, wie deutlich müssen die Auswirkungen sein, wenn wir in tiefer Verbundenheit unseren gesamten Alltag miteinander verbringen? Der Organismus unseres Tieres reagiert in identischer Weise wie der unsere, im positiven als auch negativen Sinne.
Tiere spiegeln ihre Menschen, übernehmen ihre Stimmungslage, ihre Freude und ihren Stress.
Was bedeutet das für Verhaltensberatung und Training?
Systemische Verhaltensberatung
Die systemische Verhaltensberatung beziehen die Wechselwirkungen innerhalb eines spezifischen Mensch-Tier-Gefüges in die Problemberatung ein.
Ein Hund oder ein Pferd ist oftmals nicht verhaltensauffällig weil es ein Problem aus sich selbst hat, es geht in Resonanz mit seiner Umwelt. Auch im Kontext chronischer sowie psychosomatischer Erkrankungen ist es hilfreich, das Geschehen einmal systemisch zu betrachten. Und besonders in der Trainingsgestaltung kommt man um die individuelle Verfassung und die Persönlichkeit des Tierhalters nicht umher.
Verhaltensprobleme oder gesundheitliche Störungen werden oftmals im Zuge gravierender Lebensveränderungen sichtbar. Hierzu zählen u.a.:
- Familiäre Konflikte,
- Umzug,
- Krankheiten,
- Verlust oder (andere)
- traumatische Erlebnisse
Ereignisse, die für Tiere ebenso belastend wirken können wie für Menschen. Die emotionale Verfassung und der entstehende Stress, egal ob offensichtlich oder unterschwellig, übertragen sich auf die Tiere mit denen wir leben – und das kann durchaus auch das Pferd im viele Kilometer entfernten Stall sein.
Die Liste der möglichen Reaktionen ist lang: Verhalten ändert sich, ein Hund wird vielleicht unsauber, lethargische oder aggressiv, ein Pferd reagiert mit ungewohnter Nervosität oder Angst. Insbesondere verdrängte Wut oder Trauer finden sich bei tieferer Betrachtung oft im Kern eines Problems. Dabei ist es ein weit verbreiteter Irrglaube, nur der Mensch würde um ein verstorbenes oder anderweitig fehlendes Mitglied der Familie trauern. (Anm.: Zu dem großen und wichtigen Thema Abschied und Trauerbewältigung gehe ich an anderer Stelle gesondert ein.)
Fazit
Die Gesichter der Resonanz sind vielfältig und können im Laufe der Zeit zu Verhaltensstörungen oder körperlichen Erkrankungen führen. Es sollte daher ein grundsätzlicher Ansatz in der Mensch-Tier-Beratung sein, systemische Zusammenhänge zu bemerken, anzuerkennen und in die Anamnese, die Verhaltensberatung und Trainingsgestaltung einzubeziehen.
Jeder engagierte Tierhalter sollte bei bisher unbekannten Verhaltensauffälligkeiten seines Tieres über ein eventuell „systemisches“ Wie und Warum nachdenken und potentielle Faktoren seinem Trainer oder Tierarzt berichten. Insbesondere biografische Ereignisse können hierfür von entscheidender Bedeutung sein.
Wann trat das Verhalten erstmals auf? Gab es besondere Begebenheiten, Veränderungen oder Ereignisse – und zwar nicht nur in Bezug auf das Tier, sondern auch auf die Bezugspersonen? Hören Sie für die Antworten auch auf Ihr Bauchgefühl! Meist ist der erste Gedanke, das erste Bild dazu durchaus eine nähere Betrachtung wert!
Ich wünsche allen Tierfreunden viele aufschlußreiche Erkenntnisse auf dieser Entdeckungstour!